Leseprobe 'Aventias Stunde'

-- HEUTE --

Cilia wird das beklemmende Gefühl nicht los, das sie schon die ganze Zeit gefangen hält. Weder vermag sie es einzuordnen, noch weiss sie, was es zu bedeuten hat. Die Familie geht weiter und gelangt zurück auf den schmalen Pfad, der sie in Richtung ihres Hauses führt. Das Einfamilienhaus, in dem sie wohnen, ist schon in Sichtweite, und alle freuen sich, an die Wärme zu kommen, da ruft Anaïs: «Das Licht brennt! Hatten wir es nicht ausgemacht, als wir weggingen?»

«Aber ja doch», versichert Ralf.

Im schwachen Schein ihrer Stirnlampen nähern sie sich dem Haus.

«Da ist jemand!»

«Quatsch», entgegnet Lars, «wer sollte schon in unserem Haus sein?»

«Doch. Ich habe auch jemanden gesehen», wispert Ralf. Angst widerspiegelt sich in seinem Gesicht. «Was machen wir bloss?»

«Erst mal langsam», beruhigt Anaïs, «wir löschen die Stirnlampen und gehen weiter.»

Im Garten angekommen, stehen sie vor der hell erleuchteten Terrassentür und sehen eine vierköpfige Familie in ihrem Haus. Sie sitzen an ihrem Tisch und essen ihr Käsefondue! Verborgen im Dunkel der Nacht schauen die vier den Unbekannten zu, wie sie sich in ihren Räumen bewegen, als hätten sie nie woanders gewohnt. Die beiden Erwachsenen sind in ein angeregtes Gespräch vertieft, der Junge widmet sich seinem Smartphone.

«Was macht die mit Pipo?», empört sich Cilia, als sie sieht, wie das Mädchen ihren Kater liebkost. «Wieso lässt der sich das gefallen? Sonst ist er Fremden gegenüber doch sehr misstrauisch.»

Sie starren auf das eigenartige Bild, das sich ihnen präsentiert. Nein, Einbrecher können das unmöglich sein. Einbrecher nehmen keine Mahlzeiten am Tatort zu sich. Einbrecher sind in den wenigsten Fällen als Familien unterwegs. Und Einbrecher tragen keine Hausschuhe. Unbehagen legt sich über die Familie wie eine stickige Decke.

 

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-- 427 V. CHR. LATÈNEZEIT – HELVETII --

Schwer floss die braune Masse vom Stein und tropfte zu Boden. Dort vermischte sie sich mit der staubigen Erde und bildete ein wachsendes Muster. Auf dem Opferstein lagen in einem Wirrwarr die herausgequollenen Eingeweide der Ziege. Vor diesem makaberen Anblick verharrten die drei Weissgekleideten in andächtiger Stille. Ihre Augen suchten nach Zeichen. Aus dem Fluss des geopferten Lebenssaftes deuteten sie die Zukunft. Es dauerte seine Zeit, bis nach eingehender Prüfung feststand: «Die Götter sind uns wohlgesinnt, sie verheissen uns das ganze Jahr hindurch ausgeglichenes Feuer!»

Auf die kräftige Stimme des Priesters hin ertönten vielstimmig Jubelschreie. Dies war die erlösende Botschaft, auf die sie alle gewartet hatten. Denn wenn die Götter gütig waren, wurde den Menschen Schutz und Gnade zuteil. Herbeieilende Helfer übernahmen das Opfertier. Sie zogen ihm das Fell ab. Dann wurde es ausgeweidet, auf einen Bratspiess gesteckt und über der heissen Glut des heiligen Feuers gegart. Bald schon legte sich ein würziger Duft über den Platz und liess so manchem das Wasser im Mund zusammenlaufen. Während die Ziege langsam gar wurde, assen die Leute Fladenbrot und reichten einander Becher mit dünnem Metbier. Auch Cadan schnappte sich ein Stück Brot und verschlang es gierig. Dann löschte er seinen Durst. Er konnte es kaum erwarten, dass auch das Fleisch verteilt wurde und fixierte den sich drehenden Spiess. Da raunte ihm jemand ins Ohr: «Ich weiss, dass du heimlich die Druiden beobachtet hast. Das wirst du schwer bereuen!»

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