Leseprobe 'Aventias Vergeltung'


-- HEUTE --

Langsam verschmilzt die Sonne mit dem Horizont. Nur ein feines, orange

leuchtendes Band trennt die Erde noch vom Firmament. Zaghaft schiebt sich

der Mond in den immer dunkler werdenden Himmel, durch die sternklare Nacht huscht eine Fledermaus auf der Suche nach Insekten. Plötzlich durchdringen Wortfetzen die Stille – unheilvolle Drohungen. Dann steigt Rauch auf. Ein grosses Feuer. Hitze. Schreie!

Schweissgebadet fährt Cilia hoch. Dunkelheit umfängt sie. Vergeblich versuchen ihre Augen gegen die Schwärze anzukommen. Es ist immer noch mitten in der Nacht. Dann vernimmt sie aus dem Bett nebenan das regelmässige Atmen von Alice, ihrer Schulfreundin, die für ein paar Wochen bei ihr einquartiert ist. Fürs erste ist sie erleichtert, obwohl sie immer noch am ganzen Leib zittert.

«Was für ein Albtraum», stöhnt sie und lässt sich auf das Kopfkissen zurückfallen.

«Es war nur ein Traum, nur ein Traum», flüstert sie mehrmals vor sich hin und versucht sich zu beruhigen. Doch ihr Puls rast weiter. Ans Einschlafen ist nicht mehr zu denken. Und das Gefühl, das Cilia nun beschleicht, kennt sie. Diese seelenlose Kälte ... schon einmal hat sie sich ihrer bemächtigt, noch kaum ein halbes Jahr ist es her, kurz bevor es geschah.

 

 

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-418 V. CHR. LATÈNEZEIT – HELVETII --

Ausser Atem rannte Gael den Hang hinauf. Seine hellen, mit Flecken übersäten Leinenhosen flatterten um seine Beine. Immer wieder schaute er voller Angst zurück, um zu sehen, ob der Verfolger ihm noch auf den Fersen war. Dabei hörte er, wie seine Schwester nach ihm rief. Sie hatten sie also noch nicht losgelassen. Erst hatte er geglaubt, dass die Männer ihnen nur einen Schreck einjagen wollten, aber nachdem sie Fenia gepackt hatten, wusste er, dass sie keinen Spass machten. Je weiter Gael sich vom Geschehen entfernte, umso schriller wurden Fenias Schreie nach ihm.

«Ich hole Papa!», schrie er zurück und versuchte, die Hütte noch schneller zu erreichen. Als er Cadan erblickte, der mit einem Ledereimer aus dem hölzernen Anbau der Höhle trat,  fuchtelte er mit seinen kleinen Händen wild durch die Luft und stammelte: «Sie … ist weg!» Seine Stimme überschlug sich. So ausser sich hatte Cadan seinen Sohn noch nie gesehen. Er liess den Eimer fallen und eilte ihm entgegen. «Wer ist weg?»

«Fenia! Weggezerrt!», wimmerte der Junge, als sein Vater ihn erreicht hatte.

«Von wem?»

«Männer! Sie trugen Messer», stiess Gael unter Tränen hervor. «Du musst Fenia holen, schnell!» Er verfiel in ein kraftloses Schluchzen. Cadan kniete sich vor seinen Sohn hin. «Beruhige dich, Gael, und erzähle von Anfang an. Was ist geschehen?»

«Sie kamen aus dem Wald…vier Männer.» Ein Schluckauf hinderte ihn am Weitersprechen.

Und obwohl Cadan spürte, dass die Zeit drängte, legte er Gael die Hände auf die Schultern. «Haben diese Männer etwas gesagt?», fragte er so ruhig er konnte.

«Nein, sie packten Fenia …», wimmerte Gael, nach Luft ringend, «… rissen sie einfach mit!»

«In welche Richtung sind sie davon?»

«In den Wald hinein.» Ein weiterer Heulkrampf übermannte den Jungen.

«Sie hat so geschrien! Papa!» 

Cadans Blick schweifte kurz über die Gegend, dann rannte er den Hang hinunter.


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